Vor einigen Tagen kam mein Sohn nachhause und erzählte, dass ein Schulkamerad ihm ein Video auf sein Handy gezeigt hätte, indem ein Mann zu sehen sei, der sich in den Kopf schießt. Allein diesen Satz hier zu schreiben, bereitet mir wieder ein flaues Gefühl im Magen. Als Eltern möchte man sein Kind vor all diesen schrecklichen Dingen im Netz beschützen. Ich spürte direkt, wie wütend ich gegenüber der Schule wurde. Warum dürfen die Kinder ihre Handys auf dem Schulhof benutzen und warum kann so etwas unbemerkt abgespielt werden?
Mein Mann und ich haben uns entschlossen, bis zur anstehenden GEV-Sitzung zu warten (er ist Elternvertreter), um alle am Tisch zu haben, die an diesem Gespräch beteiligt sein müssen.
Deshalb verkniff ich mir eine erschütterte Mama-Mail an den Lehrer zu schreiben. Stattdessen konzentrieren wir unsere Energie und Zeit auf unser eigenes Kind. Der Rest muss eben warten.
Edit: Unser Sohn ist bereits in der Oberschule. Er ist in der Lage mit uns klar über seine Gefühle zu sprechen. In der Grundschule sind wir bei Sorgen natürlich direkt an die Pädagog*innen herangetreten.
Unsere erste Reaktion war, dass wir unseren Sohn beobachten und viel mit ihm sprechen. An diesem Tag war alles ok, bis es Zeit wurde ins Bett zu gehen. Dann kam das Erlebte nochmal hoch. Er schilderte mir die Situation, wie es dazu kam, dass er das Video gesehen hatte. Er sprach aber nicht über die Details im Video. Macht er bis heute nicht und wir drängen ihn nicht dazu. Wir lassen ihm den Raum, den er braucht, um sich zu erholen und zu heilen. Er hat seine eigene Art damit umzugehen und wir unterstützen ihn und geben ihm immer wieder emotionalen Halt.
Verbote wirken selten bei Kinder und Jugendlichen
Da ich auf Instagram und TikTok mit einigen Teenagern verbunden bin, hatte ich von dieser Nachricht bereits erfahren, noch bevor mein Sohn uns aufgelöst davon erzählte.
Viele verbreiteten Warnhinweise in ihren Stories, dass ein Video auf TikTok herumgehe, welches zeigt, wie sich jemand erschießt. Zum einen ist es schön zu sehen, dass sowas wie ein gemeinschaftlicher Schutzmechanismus zwischen den Peers auf den Kanälen existiert, zum anderen weiß ich auch, dass allein das Reden über dieses Thema Kinder neugierig macht und sie erstrecht dieses Video sehen wollen. Meine Einschätzung ist, dass die Warnungen in diesem Kontext wahrscheinlich das virale Feuer zusätzlich entfacht haben. Dabei meine ich von einigen gewählte reißerische Aufmachung ihrer Videos als um die Absicht selbst.
Natürlich kommt es auf jede einzelne Persönlichkeit an, wie sie mit Warnungen umgeht. Aber ehrlich gesagt, sind Kinder bis in die Spätpupertät hinein darauf aus, sich zu entwickeln. Dazu gehört auch die Grenzen zu überschreiten. Wer Formulierungen wie „tu‘ das nicht“, „geh‘ da nicht hin“ verwendet, muss sich darüber bewusst sein, dass die Neugier erst recht getriggert wird. Ein unbewußtes, neugieriges „warum?“ tragen Menschen von Beginn ihrer Entwicklung mit sich. Und etwas in uns möchte sich sehr gerne gruseln. Bei einigen Kindern ist dieses Bedürfnis sehr ausgeprägt. Das stelle ich in meinen Kursen immer wieder fest. Geschichten, wie Grusel Goofy, Momo, Killer Clown oder Blue Whale etc. entfachen die kindliche Phantasie, die Neugier und sind beste Beispiele dafür, wie sich Fake News verbreiten können.
Die Sache mit „Medienkompetenz“
Abgesehen davon, dass es Seitens der Schule bis jetzt keine Reaktion gibt, sieht es im Netz auch so aus, als ob die Erwachsenenwelt davon nichts mitbekommt. Nun könnte man sagen, ist doch gut, dass nicht noch mehr davon erfahren?
Jein. Das Problem ist, dass viele Eltern, Pädagog*innen, Kinder und Jugendliche, die in den letzten Tagen über Suchmaschinen nach Antworten, Neuigkeiten und Unterstützung zu diesem Thema gesucht haben, keine journalistisch oder pädagogisch produzierten Inhalte finden.
Lediglich Jörg Schieb schreibt am 09.09.2020 im WDR diesen Beitrag, indem er sich fragt: Wie kann Suizid auf einem Kanal wie TikTok auftauchen?
Ja, ich höre euch schon nach „Medienkompetenz soll als eigenes Schulfach gelehrt werden“ rufen. ABER: diese gut gemeinte Idee ist nicht ganz durchdacht. Das, was unsere Gesellschaft im Umgang mit kritischen Inhalten zum Schutz der Heranwachsenden braucht ist, einen Weg finden, wie Schule, Eltern und Schüler*innen eine vertrauensvolle und gesunde Kommunikation etablieren können, um Kindern ein Netz zu bieten, in das sie fallen können, wenn sie mit verstörenden Dingen konfrontiert werden. Medienkompetenz ist in erster Linie eine kommunikative Kompetenz. Was gerade oft fehlinterpretiert wird ist, dass Medienkompetenz allein das Erlernen von technischen Fertigkeiten ist.

In meinen Kursen geht es immer wieder darum die eigene Mediennutzung zu reflektieren und kritisch mit Gegebenheiten umzugehen, um schließlich eine Haltung zu entwickeln. Also: Lernen über das Erlebte zu sprechen. Unsere Erwachsenen-News-Welt ist so dicht bepackt mit großen Themen, dass wir erst dann bei den Kinder und Jugendlichen hinschauen, wenn ihre Themen die ganze Welt umrundet haben.
4 Tipps, wie ihr Kinder und Jugendlichen helfen könnt
Mit meinem Sohn führte ich ein langes Gespräch. Über das Erlebte sprechen ist wichtig. Ohne dabei Vorwürfe zu machen oder sich aufzuregen, sollte man hier einfühlsam auf das Kind eingehen. Folgende Tipps habe ich meinem Sohn im Gespräch mitgegeben:
- Sei kritisch, wenn dir jemand ein Video zeigen will. Du kannst auch ’nein‘ sagen, wenn du jemanden nicht traust!
- Frag erst, was er oder sie dir zeigen möchte, bevor du hinschaust.
- Stell‘ das Gesehene immer in Frage. Es muss nicht immer echt sein.
- Sprich direkt mit deine*m Erzieher*in, Lehrer*in oder einer anderen Vertrauensperson, wenn du etwas schlimmes gesehen hast. Es ist keinesfalls in Ordnung, dass Mitschüler*innen jugendschutzgefährdende Inhalte auf dem Schulhof zeigen.
Unsere (neue) digitale Realität
Auch wenn ich mir wünsche, dass meine Kinder vor solchen schrecklichen Szenen verschont bleiben, so ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit gewesen, dass sowas passiert. Es bringt nichts, wenn Eltern dann anfangen die Schuld bei der Schule zu suchen und ihre Wut und Enttäuschung an den Pädagog*innen auslassen. Viel mehr sollte hier eine wertschätzende Kommunikation zum Wohle aller beteiligten forciert werden, um nachhaltige Resultate zu erzielen. Wir werden die Welt nicht ändern können, eine transparente und lösungsorientierte Kommunikation hilft mit neuen, unbekannten Situationen fertig zu werden.
